Kennst du das auch? Du hast den Kopf voller Ideen, die du unbedingt mal umsetzen willst. Eigentlich möchtest du schon lange den alten Schrank mit einem tollen Anstrich aufpeppen, die Gitarre mal wieder auspacken und üben oder ein farbenfrohes Bild für den tristen Flur malen. Eigentlich. Aber da ist dieses böse Wort. Eigentlich …
Manche von uns wollen schon seit zwanzig Jahren ihren Roman schreiben, reden aber schon gar nicht mehr darüber, weil die Frage „Was macht denn dein Roman, schreibst du noch?“ jedes Jahr unangenehmer klingt. Andere kaufen sich immer wieder diese wunderschönen Malsets in edlen Holzkoffern und verstauen sie dann nach einer halben Skizze verschämt unten im Schrank – bei den anderen Malsets. Wir würden unsere Ideen ja so gern mal umsetzen, tun es aber dann irgendwie doch nicht. Und jedes Mal, wenn wir etwas nicht tun, wird die Hürde größer, endlich Ideen in die Tat umzusetzen. Dabei liegt es sicher nicht an mangelnder Kreativität. Aber woran dann?
Herr Doktor, meine Kreativität klemmt!
Es ist einfach, alles auf angeblich mangelnde Kreativität zu schieben, wenn wir einfach nicht aus dem Quark kommen und lieber am Fernseher rumschalten oder Solitär spielen, anstatt aktiv zu werden und selbst etwas zu erschaffen. Und ja, man kann es sicher auch auf „natürliche“ Trägheit schieben. Das Leben ist schon stressig genug, da muss man sich nicht auch noch damit unter Druck setzen, dass man kreativ werden sollte …
Grundsätzlich sind Pause, Entspannung und Muße immer gut, bin ich sofort dabei. Das Problem ist nur: Wir entspannen uns ja gar nicht, wenn wir unsere Ideen nicht rauslassen, wir lenken uns nur ab! Wir daddeln uns die Rübe dicht mit hektischen Pixeln, wir klicken endlos irgendwelche Links durch, um Nachrichten zu lesen, die uns gar nicht interessieren und die ganz Harten unter uns kommen auch auf so Ideen, wie die Geschirrtücher zu bügeln, um nicht an den Malkoffer im Schrank denken zu müssen.
Aber all das ist keine Entspannung! Kreativität dagegen ist Entspannung, und zwar aktive Entspannung, meiner Erfahrung nach die beste Sorte, die man haben kann. Denn wir Menschen sind eben so gemacht, dass wir gern etwas zu tun haben wollen, aber etwas sinnvolles, etwas schönes. Wir wollen entdecken, ausprobieren, tüfteln, erfinden, erschaffen, neue Kompetenzen entdecken und entwickeln, um nicht hinter unserem Potenzial zurück zu bleiben.
Wenn wir diesen Urtrieb nicht hätten, würden wir heute noch bibbernd und mit knurrendem Magen in Höhlen sitzen und frustriert darüber nachgrübeln, wie grandios es wäre, wenn wir Feuer selber machen könnten. Aber, ach, geht ja nicht, nee, ist zu schwierig, irgendwie ist mir auch zu kalt, um es rauszufinden, ich bleib besser mal hier sitzen. Schade, dass ich armer Höhlenmensch kein Facebook hab, das würde mich jetzt so schön ablenken …
Haben wir ein Glück, dass unsere kreativen Vorgänger die Feuersteine und das vielleicht noch unausgegorene eirige Rad nicht zu den Malkästen in den Schrank geräumt haben! Stattdessen haben sie ihrer Kreativität freien Lauf gelassen bis zum glücklichen Flow und dabei ganz nebenbei immer neue, tolle Dinge erschaffen. Wenn du selbst diesen Flow schon einmal (oder sogar öfter) erlebt hast, weißt du, worum es bei deiner Kreativität geht: Völliges bei dir selbst sein und aktiv entspannen. Einfach machen. Ganz aufgehen in einer Sache. Es ist ein wahnsinnig tolles Gefühl. Aber wieso ist es verdammt nochmal so schwierig, damit anzufangen?
Die bösen Gegenspieler: Perfektionismus, Prokrastination und Günther
Unsere aktive Kreativität wird von drei übergewichtigen, haarigen Monstern in Schach gehalten. Da ist zum Beispiel dieser fiese Perfektionismus. Wenn du ihn im Verdacht hast, ein Kreativitätshemmer zu sein, frag dich einfach, ob du vielleicht deinen Roman nicht schreibst oder deine Bilder nicht malst, weil du immer wieder denkst „Es gibt ja schon unzählige großartige Bücher, die viel besser sind als alles, was ich je schreiben könnte!“ oder „So gut wie meine Vorbilder werde ich sowieso nie malen können … „. Kehren wir die Frage jetzt mal um. Wenn alle Kulturschaffenden, die uns ihre Werke geschenkt haben, nie angefangen hätten, weil es ja immer schon einen gab, der besser war, wo wären wir dann jetzt?
Wenn Chopin gar nicht erst ans Klavier gegangen wäre, weil Franz Liszt der begnadetste Pianist seiner Generation war, wäre ihm und uns einiges entgangen. Franz war schneller an den Tasten, hatte vielleicht die bessere Technik und erwiesenermaßen eine größere Spannweite, er hatte nur einen Haken: Er war nicht Chopin. Du verstehst, was ich meine? Deine ganz persönliche Kreativität kannst nur du erschaffen. Also versuche, dich nicht zu vergleichen oder perfekt zu sein. Schon gar nicht „perfekter“ als andere. Spätestens hier beißt die Schlange sich selbst in den Schwanz und zeigt uns, was Selbstsabotage heißt!
Der zweite böse Gegenspieler ist die Prokrastination, auch „Aufschieberitis“ genannt. Dabei handelt es sich um eine „Erledigungsblockade“, die uns dazu bringt, immer wieder alles auf später zu verschieben. Es ist aber damit nicht vergessen, sondern eben verschoben, was bedeutet, dass es immer und immer und immer in unserem Bewusstsein rumklötert und scheppert und stört und uns nicht zur Ruhe kommen lässt. Wir verbringen viel weniger Zeit damit, Dinge zu bereuen, die wir tatsächlich getan haben, als damit, Dinge zu bereuen, die wir nicht getan haben. Der böse Widerhaken der Prokrastination besteht darin, dass sie uns bei jeder aufgeschobenen Sache noch eine Schüppe auf die Sondermüllhalde der Psyche packt: Looooser! Du machst aber auch nie irgendwas fertig! Jaja, immer nur morgen, morgen, das kennt man ja von dir.
Das zerstört auf Dauer unser Selbstvertrauen und führt uns direkt zu Günther. Günther habe ich jetzt einfach mal den Teil unserer Persönlichkeit genannt, der gern unsere Bedürfnisse befriedigt. Das Bedürfnis nach sinnerfüllter Tätigkeit, nach Spaß, nach Gemeinschaft, nach Entspannung, Lebensfreude und Entfaltung. Günther ist eigentlich einer von den Guten! Aber er führt sich auf wie ein bockiges Kind! Nur, weil du ihm zehnmal versprochen hast, mit ihm einen Drachen zu bauen und zu der großen Wiese zu gehen, um ihn steigen zu lassen. Der soll sich mal nicht so anstellen. So wichtig ist das mit dem Drachen ja nicht. Es gibt schließlich genug anderes zu tun, Günther soll dich mal nicht nerven, irgendwann machen wir das schon noch. Das Spielchen treibst du so lange, bis Günther heulend in sein Zimmer rennt und die Tür zuknallt. Vorher schreit er aber noch: „Aber du hast es versprochen! Dir glaub ich NIX mehr!“ Und deine Kreativität – die nimmt er mit. Und schließt sich mit ihr ein. Und schmollt.
Kreativität ist wie ein Muskel: Je mehr du sie trainierst, umso stärker wird sie!
Spätestens, wenn Günther dir die Tür vor der Nase zuknallt, hast du es zu weit getrieben. Du willst deinen Günther wieder haben, und du kannst die dicke Luft im Streit mit dir selbst gar nicht gut aushalten! Wolltest du dich nicht eigentlich entspannen, dir was Gutes tun und kreativ werden? Stattdessen bist du unzufrieden mit dir selbst, nörgelst rum und lässt es an deinem Partner, deinen Kollegen oder einer langsamen Oma in der Kassenschlange aus. Willst du so sein? Nö.
Also! Dein kreatives Potenzial ist eine Form von Energie. So wie Wasserdampf in einer Dampflok. Wenn du sie bewusst in die richtigen Bahnen lenkst, geht sie ab wie ein Stück flutschige Seife in der Badewanne und nimmt dich mit auf eine spannende Entdeckungsreise. Wenn du sie unterdrückst und ständig auf später verschiebst, explodiert irgendwann der Kessel. Es kostet wahnsinnig viel Energie, das eigene Potenzial immer wieder zu unterdrücken, nur, weil man es vielleicht nicht perfekt zum Ausdruck bringen kann. Denn seinen Ausdruck findet es erst dadurch, dass du es tust. Und dazu brauchen wir manchmal – so doof das klingt – Selbstdisziplin.
Ja, aber … kreativ sein soll doch Spaaaaß machen! Selbstdisziplin klingt so, wie meine Lateinlehrerin aussah. Verhärmt, verbittert und zäh wie ein Minutensteak nach einer halben Stunde in der Pfanne. Aber die Disziplin ist viel besser als ihr Ruf – um genau zu sein, sie ist die Brücke, die dich rüber bringt auf die grünere Seite der Wiese, wo du vor Ideen nicht nur sprudelst, sondern auch handelst, anstatt nur zu denken.
Und so viel Disziplin musst du auch gar nicht aufbringen. Oft geht es nur um den einen einzigen Schritt, um mit etwas anzufangen, was schon lange als Plan in deinem Kopf herumkullert und schon lange endlich sein Eigenleben entwickeln will – denn das tun kreative Werke immer, sobald sie zur Welt kommen. Das Bild, das du malen wolltest, sah in deinem Kopf ganz anders aus, aber ist es nicht abenteuerlich und überraschend, wie es sich entwickelt, wenn du es wirklich malst? Und kommen dir nicht, wenn du dich endlich mal auf den Hintern setzt und wirklich schreibst, anstatt an deinem Roman nur im Kopf zu feilen, völlig neue Ideen? Wenn du mit deiner Kamera los läufst, entdeckst du dann nicht plötzlich überall einzigartige Motive, die du von deinem Sessel aus nie gesehen hättest?
Der Schritt ins kreative Tun ist oft ein ganz winziger. Stifte und Papier bereitlegen und loslegen. Aus dem Supermarkt einfach mal bunte Knete mitbringen und lustige Jahreszeitendeko modellieren. Blumen pflanzen. Reime finden auf Wörter, die du magst. Oder wann hast du das letztemal mit Kindern gespielt? Kinder sind wahre Meister der darstellenden Künste! Sie brauchen keine Kostüme und kein Reklamheft, um in Rollen zu schlüpfen und spannende Dramen aufzuführen. Sie tun es einfach, weil sie es können. Und genau so sollten wir vernünftigen Erwachsenen uns auch darin üben, wieder spontan und regelmäßig kreativ zu sein – einfach, weil wir es können.
Und je öfter wir diesen „Muskel“ gebrauchen, umso stärker wird er, umso leichter fällt es uns, in den „Flow-Modus“ zu gehen, uns selbst zu überraschen und total vom Alltag abzuschalten. Und diesen wunderbaren „kindlichen“ Zustand erreichen wir ganz einfach dadurch, dass wir uns bewusst dafür entscheiden, einfach mal anzufangen. Sobald wir den Stift in der Hand haben oder die Gitarre auf dem Schoß, kommt die Kreativität von ganz allein. Und dann kommt auch Günther irgendwann wieder aus seinem Schmollwinkel und setzt sich grinsend zu uns. Hast du schon eine spezielle Methode entwickelt, um deinen Günther anzulocken?